Die gegenwärtigen Versuche in der Kunst, sich eine politische Form zuzulegen
Auf die Frage, wie es der Kunst der Gegenwart gelingen könnte, sich aus dem erkalteten, starren Korsett ihrer politischen Randständigkeit zu lösen, in das sie sich selbst wie ein Limbotänzer gezwängt hat, liefert dieser Text keine Antwort. Nur ein deutliches Unbehagen drückt er aus. In dieser Folge: Unterkühlte Räume professionalisierter Indifferenz. In der kommenden: Die leidenschaftlich brennenden Herzen der Kunstaktivist:innen.
Das Leben ist schwer, schwer
Die Temperaturen beim Betreten der Ausstellungseröffnung in Wien kürzlich lagen knapp über dem Gefrierpunkt. So angestrengt von mir der Versuch unternommen wurde, die schönen, gelungenen, filigranen, klugen Arbeiten in ihrer Gesamtheit zu mir sprechen zu lassen, so angestrengt starrten die weißen Wände und ihre Behänge zurück, als ob die Nägel, die man in sie geschlagen hatte, ihnen Kopfzerbrechen bereiten würden. Gleichermaßen angestrengt und müde sahen die meisten Anwesenden aus. Angestrengt vom Aufbau, vom Schlafmangel, vom Feiern, von anderen Jobs, von psychischen Problemen, vom Angestrengt-Aussehen und von all den Sorgen, die zum Schlafmangel führten – angestrengt also vom Leben, wie wir alle. Und doch mit der Eigenheit, dass jene Müdigkeit, das große Ganze betreffend, nicht nur durch nichts erschüttert werden konnte, sondern auch gar nicht sollte.
Zwei Menschen saßen eingesunken in ein Sofa, es sah danach aus, als ob dieses sie bald geräuschlos schlucken könnte, so schwer drückte die Welt sie in die Polster. Sie müssen sehr, sehr müde gewesen sein, denn sie hatten keine Kraft, auch nur leicht mit dem Kopf zu nicken, das ihnen von mir brutal entgegengeschleuderte „Hallo“ zu beantworten. Mit letzter Kraft müssen sie die Mundwinkel nach unten gepresst haben, denn sie wirkten wie von bleierner Starre. Es wirkte so, als ob die Anwesenden sich die bereits 1933 in seinem Text „Erfahrung und Armut“ getätigten Beobachtungen von Walter Benjamin ganz direkt zu Herzen genommen hätten. Als ob sie ihre gesellschaftlich bedingte Armut an mitteilbarer Erfahrung auch im Gesicht tragen und sich keinesfalls dem traumhaften Zustand der Sentimentalität hingeben wollten, mit dem die Kulturindustrie bis heute lockt. Doch was bei Benjamin noch als neue, positive Form der Barbarei verstanden wird, gekennzeichnet durch die „gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm“, erscheint nun im fahlen Glanz einer Stromlinienförmigkeit, die vor allem darauf ausgerichtet ist, durch minimale Konfrontation mit der Welt jedes potenziell aufrüttelnde Ereignis zu meiden, ja generell, soweit es geht, alles zu meiden.
Der Sekt aus dem Kühlschrank wärmt meinen Magen. Meine Gedanken springen vom stromlinienförmigen Künstler:innensubjekt zu Aalen, die sich am Meeresgrund in den toten Höhlen abgenagter Pferdeschädel tummeln. Und ich dachte mir: „Die Aale sind die Akteure der Kunstwelt, alle auf einmal. Und der Schädel des Pferdes, in dem sie sich alle tummeln, der ist die Kunst. Und das Sediment, das langsam, aber stetig seinem Tun nachkommt und den Schädel im kalten Schlick versenkt, das ist alles, was wir kennen können.“
Der Ritt auf dem Pfeil der Zeit
Und ich fragte mich noch in jener Sekunde vor Ort und in großer Sympathie und mit zeitgleich ausgeprägtem Ekel gegenüber Aalen, diesen fettigen, glitschigen, stummen, agilen Kiementrägern, von denen auch ich einer bin: „Ist das die Avantgarde?“ Diese Vorhut der Gesellschaft, beim wilden Ritt auf dem Pfeil der Zeit stets auf dessen Spitze fest im Sattel, furchtlos der Zukunft entgegen? Mit großer Sicherheit würde sich niemand in der Kunst heute noch selbst so bezeichnen. Der Kritik an dem Begriff steht die allgemeine Verunsicherung zur Seite. Denn welche Nische gibt es für die Kunst noch zu besetzen? Welchen Skandal auszulösen? Welches gesellschaftliche Verhältnis zu vereiteln? Und wer sollte es tun – das Werk oder Autor:in – zu einer Zeit, in der kein Kunstobjekt ohne den verweisenden Kommentar auf seinen Status als solches noch existieren kann?
Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es sich auch bei diesen müden Barbar:innen nicht um mutige Abenteurer:innen handelt, deren Erstarrtheit sich in ihrer Erkenntnis begründet, dass die einzige politische Form der Kunst der Gegenwart ist, dem eigenen Kunstwerk dessen Unzulänglichkeit einzuprogrammieren. Denen nicht im Angesicht der Erfahrung des zunehmenden Wegdriftens ihres Erfahrungshorizonts der kalte Reflexionsschweiß von der Stirn perlt. Sondern aufgrund der gewöhnlichen und allgemeinen Angst, bei den nächsten Turbulenzen, durch die sich der Pfeil der Zeit buckelt, abgeworfen zu werden wie der glücklose Rodeoreiter.
Mit Blick in das grelle Licht der Lampe denke ich an ein Stück Räucheraal, vom Fortschritt harpuniert, in mundgerechte Stücke zerlegt, zubereitet. Er tut seinen Dienst an der Sache, aber ohne Bewusstsein.
Anne Zühlke